von Janine Aures
Betrachtet man die Fotografie, so trifft zunächst ein Lichtreflex das Auge. Er geht von dem mittleren der drei länglichen, parallel angeordneten Gegenstände aus und wurde wohl durch die Belichtung der Kamera bei der Aufnahme des Bildes erzeugt. Die beiden vorderen, auf der Fotografie sichtbaren Gegenstände sind fein gearbeitete Prismen aus Glas mit drei Flächen, die in runde Glasknäufe auslaufen; das vordere Prisma ist etwa doppelt so lang wie das hintere. Der dritte Gegenstand ist eine braune, lackierte und etwas abgegriffene Hülle aus Holz oder Bast wohl zum Schutz des längeren Prismas. Sie trägt ein rotes Siegel und ein grünes Etikett mit einer handschriftlichen Bemerkung. Den Hintergrund der Fotografie bildet die Kopie eines vielfach annotierten Titelblattes von Arthur Schopenhauers Schrift Ueber das Sehn und die Farben. Die drei Gegenstände sind so angeordnet, dass sie – obgleich parallel und im gleichen Abstand zueinander – möglichst wenig von der Schrift verdecken, so dass deutlich werden muss: Der Arrangeur des Bildes will einen Zusammenhang zwischen den Objekten und dem Text herstellen.
Die beschriebene Installation wurde am 26. April 2007 der virtuellen Galerie des Schopenhauer-Archivs in der Universitätsbibliothek Frankfurt hinzugefügt. Diese verzeichnet einerseits Gegenstände aus Arthur Schopenhauers (1788–1860) persönlichem Gebrauch, Bilder und Fotografien von Schopenhauer und Menschen, die ihm nahestanden, sowie von Orten, die mit ihm verbunden waren. Andererseits enthält sie einige Bilder zur Archivgeschichte.
Im Prismenbild verbergen sich Informationen zu beiden Sammelgebieten. Aus dem Arrangement des Bildes lässt sich einerseits ein Verweis auf die Arbeitsweise Scho-penhauers ableiten: Wie Goethe (1749–1832) benutzte auch Schopenhauer Pris-men für optische Versuche, die ihren Niederschlag in seiner Schrift Ueber das Sehn und die Farben fanden. Allerdings leitete er seine Erkenntnisse in deutlich geringe-rem Umfang aus Beobachtungen ab, als Goethe dies in seinem Entwurf einer Farbenlehre getan hatte, war sein Interesse doch ein gänzlich anderes. Wo Goethe einen Forschungsgegenstand (der vielleicht im weiteren Sinne mit dem Begriff Optik zu umschreiben ist) aus verschiedenen wissenschaftlichen Fachrichtungen beleuchtete, um so ein umfassendes Bild zu gewinnen, entwarf Schopenhauer eine philosophische Wahrnehmungstheorie. Für ihn war also die Beschaffenheit des Auges von primärem Interesse, nicht etwa die Zerlegbarkeit des weißen Lichts in farbige Lichter, die mithilfe eines Prismas veranschaulicht werden kann.
Andererseits verweisen die Gegenstände auf die Sammlungsgeschichte: Das Scho-penhauer-Archiv ist archivfachlich gesehen ein „unechter Nachlass“. Einige Stücke wurden der Stadtbibliothek, deren Bestände später in die Universitätsbibliothek inte-griert wurden, von Schopenhauer 1852 testamentarisch vermacht. Andere wurden noch bis 1958 vom Archiv selbst oder von der Schopenhauer-Gesellschaft zusam-mengetragen. Die Stücke der Schopenhauer-Gesellschaft wurden dem Archiv 1921 als Dauerleihgabe überlassen. Zu ihnen gehört eines der Prismen. Caecilie und Angelika Bähr aus Dresden schenkten es der Schopenhauer-Gesellschaft kurz nach ihrer Gründung im Jahr 1911, gemeinsam mit einem Brief Schopenhauers an seinen Bekannten, den Maler und Schriftsteller Johann Karl Bähr (1801–1869) vom 28. September 1855, und mit dem Vermerk, es handle sich um das Prisma, das Schopenhauer bei seinen optischen Studien benutzt habe. Der Brief selbst enthält keinen Hinweis auf das Prisma.
Auch ohne dass jeder der einzelnen Gegenstände lückenlos und direkt auf Scho-penhauer zurückführbar wäre, bleibt seine Person der Schlüssel zu der Faszination, die von ihnen ausgeht. Es sind Alltagsgegenstände aus einer vergangenen Zeit, deren verbindendes Element darin besteht, dass sie von einem Philosophen benutzt wurden. Doch warum sie aufheben und an einem Ort der Wissenschaft aufbewahren, der ansonsten vor allem gebundene Bücher sammelt, ordnet und zugänglich macht?
Vielleicht wollen wir, wenn uns ein Gedankengang gefangen nimmt, auch den Menschen, der ihn formuliert hat, möglichst genau kennenlernen. Das Voyeurhafte, das Gefühl, dabei die Grenze des Privaten zu überschreiten, und gleichzeitig in den Kreis einer imaginären Apostelschar einzutreten, die den Reliquien ihres Meisters huldigt, erhöhen noch den Reiz der Objekte und machen sie zur Attraktion in zahlreichen Schopenhauer-Ausstellungen. Auch das Schopenhauer-Archiv selbst zieht mindestens ebenso viele außerwissenschaftliche Bewunderer des Philosophen an wie wissenschaftliche Nutzer, was vielleicht an seiner eigenwilligen Zusammensetzung aus Büchern, Manuskripten, aber auch musealen Gegenständen liegt.
Janine Aures war im Wintersemester 2012/13 Studentin der Geschichte. Der Text entstand im Rahmen der Lehrveranstaltung der Studiengruppe „sammeln, ordnen, darstellen“.
http://edocs.ub.uni-frankfurt.de/volltexte/2007/81000634/ [Zugriff am 18.02.2013]
Aufstellung der Schenkungen an die Schopenhauer-Gesellschaft, Schopenhauer-Jahrbuch 1 (1912), S. 98.
Arthur Hübscher (Hg.), Arthur Schopenhauer: Gesammelte Briefe, Bonn 1978.
Franz Riedinger, Schopenhauers Daguerreotypie, Schopenhauer-Jahrbuch 34 (1951–1952), S. 74–81.
Karl Wagner, Goethes Farbenlehre und Schopenhauers Farbentheorie, Schopen-hauer-Jahrbuch 22 (1935), S. 92–168.
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Die Plattform wurde von der Studiengruppe "sammeln, ordnen, darstellen" am Forschungszentrum für Historische Geisteswissenschaften entwickelt und im Rahmen der Jubiläumsfeierlichkeiten der Goethe-Universität im Jahr 2014 eröffnet. Ihr Aufbau war eng mit der Ausstellung „Ich sehe wunderbare Dinge. 100 Jahre Sammlungen der Goethe-Universität“ verknüpft, die von Oktober 2014 bis Februar 2015 im Museum Giersch der Goethe-Universität zu sehen war. Viele der Objekterzählungen waren auch in der Ausstellung zu lesen und sind im Katalog abgedruckt worden; viele Ausstellungstexte haben wiederum den Weg in die Plattform gefunden. Ebenso wurden die auf der Plattform gezeigten Filme sowie viele der Fotografien eigens für die Ausstellung produziert.
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