von Luisa Benzinger
Vor uns liegt ein Heft, zwölf Seiten, die unteren Ränder vergilbt. Auf der ersten Seite am oberen Rand steht Schlemiel. Die großen breiten Lettern und die Anordnung des Textes darunter weisen darauf hin, dass es sich hierbei um eine Art Deckblatt handeln muss. Besonders auffällig sind die ornamenthaften Verzierungen, die sich um das Wort Schlemiel ranken und einen in Gedichtform angeordneten Text darunter einrahmen. Dass wir es hier mit einer Zeitschrift zu tun haben, erschließt sich in der genaueren Betrachtung des Formalen: Deckblatt, nummerierte Seiten, verschiedene kurze Texte, die auf einzelne Rubriken verweisen und ein Herausgeber. „Herausgegeben von Dr. Max Jungmann, Berlin“ heißt es auf der ersten Seite. Erscheinungsdatum ist der 28. Februar 1907. Die Titelgebung Schlemiel macht neugierig, verweist sie doch auf eine Figur aus der jüdischen Literatur, insbesondere jiddischen Erzählungen. Der Schlemihl ist hier der Schelm, oder unfreiwillig komischer Unglücksvogel.
Organ der Zione-Territorialisten steht als Titel-Zusatz zu Schlemiel auf der ersten Seite. Die Formulierung verweist darauf, dass uns dieses Objekt etwas über zionistische Bestrebungen im deutschsprachigen Raum erzählen kann. Die sich im ausgehenden 19. Jahrhundert manifestierende Idee des Zionismus kann als Gründungsidee, Nationalbewegung und Ideologie gefasst werden, welche die Gründung eines nationalen jüdischen Staates zum Ziel hatte. Von Beginn an war der Zionismus von abweichenden Strömungen und Ideen geprägt, die nicht selten miteinander im Widerstreit standen. Solche innerzionistischen Differenzen sind ein zentrales Thema in Bild und Text des Schlemiel, ebenso wie die Kritik am vermeintlich assimilierten deutsch-jüdischen Bürgertum. Nur schwer konnte der Schlemiel ein Publikum finden und eine Leser*innenschaft aufbauen. Wiederholt wurde das Blatt abgesetzt und in neuer Herausgeberschaft wieder aufgenommen.
Nicht unerheblich war dabei sicher auch, dass die Autor*innen sich in der Artikulation ihrer Inhalte der Satire als Mittel der Kommunikation bedienten. Sowohl in Text wie auch in Abbildungen lässt sich an den humoristischen und überzeichnenden Auseinandersetzungen mit verschiedenen Themen erkennen, dass es sich beim Schlemiel um eine Satire-Zeitschrift handelt. Auffällig sind neben kleinen Abbildungen, die an einzelnen Stellen Personen in starker, teilweise stereotypisierender Überzeichnung darstellen, dabei insbesondere überzeichnende Texte. Beispielhaft steht dafür eine im fiktiven Anzeigenteil der Zeitschrift aufgeführte Einladung zu einem Märchen- und Legenden-Abend der Deutschen Antisemiten-Bande, der sich Themen wie Menschenblut und Pesach oder Jüdischen Milliarden widme. Weit entfernt von unfreiwillig Komischem wirkt das Aufgreifen dieser antisemitischen Bilder im Kontext einer zionistischen Satirezeitschrift. Und irritiert damit umso mehr – welche Intention steht hinter dem Aufgreifen dieser Bilder? Diese Sprachbilder, die sehr explizit antisemitische Erzählungen bedienen, treten hier als bewusst eingesetztes satirisches Mittel auf. So offenbart sich die Einladung zum Märchen- und Legenden-Abend weniger als Reproduktion antisemitischer Erzählungen, als vielmehr karikierender Kommentar auf eine reale Bedrohung. Der in dieser Wiederverwendung liegende humoristische Moment ist sicherlich eine nicht widerspruchsfreie Gratwanderung, die jedoch vor dem Hintergrund eines sich verstärkenden Antisemitismus in Europa gelesen werden muss. Die Aneignung der Sprachbilder durch Übertragung in einen anderen Kontext tritt hier als eine Art humoristische Abwehrstrategie gegen den herrschenden Antisemitismus auf. Die zionistische Satirezeitschrift Schlemiel eröffnet damit nicht nur ein Nachdenken über die Funktion von Humor und Satire, sondern erweist sich bereits in dieser ausschnitthaften Betrachtung als ein widerständiges Blatt.
Zugang zum vollständig digitalisiertem Buch erfolgt unter diesem Link.Dieser Beitrag von Luisa Benzinger entstand im Rahmen des Projektseminars ’17 Motive jüdischen Lebens‘ an der Goethe-Universität Frankfurt am Main im Sommersemester 2021.
Schleicher, Regina, Spott auf einem schmalen Grat – Der Schlemiel, eine frühe zionistische Satirezeitschrift, in: Deutsch-jüdische Presse und jüdische Geschichte. Dokumente, Darstellungen, Wechselbeziehungen, hrsg. von Eleonore Lappin und Michael Nagel. Bremen: edition lumière 2008, Bd. 2, S. 41-56.
Schleicher, Regina „Schlemiel“ – Jüdische Identität in der Satire des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, in: Bilder des Jüdischen. Selbst- und Fremdzuschreibungen im 20. und 21. Jahrhundert, hrsg. von Juliane Sucker und Lea Wohl von Haselberg. Berlin/ Boston: Walter de Gruyter 2013, S. 241- 261.Wir freuen uns über Ihre Email an: sammlungen[at]uni-frankfurt.de
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Die Plattform wurde von der Studiengruppe "sammeln, ordnen, darstellen" am Forschungszentrum für Historische Geisteswissenschaften entwickelt und im Rahmen der Jubiläumsfeierlichkeiten der Goethe-Universität im Jahr 2014 eröffnet. Ihr Aufbau war eng mit der Ausstellung „Ich sehe wunderbare Dinge. 100 Jahre Sammlungen der Goethe-Universität“ verknüpft, die von Oktober 2014 bis Februar 2015 im Museum Giersch der Goethe-Universität zu sehen war. Viele der Objekterzählungen waren auch in der Ausstellung zu lesen und sind im Katalog abgedruckt worden; viele Ausstellungstexte haben wiederum den Weg in die Plattform gefunden. Ebenso wurden die auf der Plattform gezeigten Filme sowie viele der Fotografien eigens für die Ausstellung produziert.
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