von Theresa Gessler
Obwohl es sich um seine eigene Vorlesung handelt, kommt Oskar Negt (*1934) kaum zu Wort. Die Studierenden diskutieren heftig, von allen Seiten werden Meinungen ins Plenum gerufen. Es geht um ein Thema, das die Gemüter erregt: die Möglichkeit sozialistischer Moral. Heute kann man einen Mitschnitt der Vorlesung, die der Professor für Sozialphilosophie in den 1970er Jahren an der Frankfurter Universität hielt, im Archivzentrum der Universitätsbibliothek anhören. Die einzige Atempause hat der Hörende, als Negt die kurz zuvor geäußerte Meinung eines Teilnehmers verurteilt, Tote in Straßenkämpfen als ‚notwendige Opfer‘ seien mit Verkehrstoten gleichzusetzen. Es folgt der Höhepunkt der Diskussion, der mit Tumulten im Saal einhergeht. Die Mitschnitte, die dem Archivzentrum im Oktober 2010 als Negts Vorlass übergeben wurden, sind private Dokumente, die den Geist der Vorlesungen einfangen.
Die Debatte beginnt inmitten einer Diskussion über den kategorischen Imperativ Kants, den Negt um Marx’s Aufruf erweitern will, alle Verhältnisse umzustürzen, in denen der Mensch ein geknechtetes Wesen sei. Schnell kommt die Diskussion auf Fragen von Gewalt und Umsturz: Jeder Revolutionär trage persönlich die Verantwortung für jeden Toten. Dies tue aber auch jeder, der Unterdrückung dulde – Nicht-Einmischung und „bürgerliche Moral“ seien also ebenso verfehlt.
An der Vorlesung zeigt sich nicht nur der Enthusiasmus aller Beteiligten für Diskussionen, sondern auch das Engagement Negts für die 1968er-Bewegung. Negt hatte nach seiner Zeit als Assistent von Jürgen Habermas (*1929) in Hannover eine Professur angetreten. Auf Grund seines wissenschaftlichen, gesellschaftspolitischen und gewerkschaftlichen Engagements war er aber auch noch als Professor in Hannover ein wichtiger Exponent der jüngeren „Frankfurter Schule“. In der Diskussion ist er allerdings nur durch die Häufigkeit seiner Redebeiträge als Dozent erkennbar. Als heutige Hörerin braucht man einige Zeit, um zu erkennen, dass es sich bei der um das Wort kämpfenden Stimme um Negt handeln muss.
Durch die Aufnahmebedingungen im Hörsaal fällt es zudem teils schwer, der Diskussion zu folgen: Studierende und Dozent reden durcheinander, auch die Themen wechseln. Erst beim wiederholten Hören bemerkt man, dass kaum Frauen sprechen, dass Lachen und Lärm manchmal schwer auseinanderzuhalten sind und dass kaum jemand auf seinem Platz zu bleiben scheint.
Das gilt insbesondere für die emotionsgeladene Diskussion über notwendige Übel. Bezogen auf Lenin wird der Hunger als Katalysator der Revolution eingeführt, es wird diskutiert ob wirkliche Armenversorgung möglich ist. Wie man nun zu verfahren habe? Negt sagt: „Die Tatsache, dass man dagegen ist, dass sich eine Gesellschaft darauf beschränkt die Unterdrückten und die Ausgehungerten und die Obdachlosen...“ – und der Track endet. Der Versuch, unter den Einzeldateien des Tonarchivs eine Fortsetzung zu finden, scheitert, in der nächsten Aufnahme ertönt „I had a dream“. Auf der übernächsten kommt die Gegenfrage „so what you gonna do?“, die von einem Musiker mit der Ankündigung von einem Sciencefiction-Musikstück über Holocaust-Überlebende beantwortet wird. Durch die Rekombination auf Tonbändern, die teils mehrfach überspielt und dabei zerstückelt wurden, erhält die Aufnahme eine neue Wendung zurück auf den Hörer.
Die Frage wie Revolution möglich und verantwortbar ist, wird also nicht beantwortet – schon die Debatte über die Opfer von Straßenkämpfen wird mit der Bekundung von Studierenden „keinen Bock“ mehr auf das Thema zu haben, beendet. Diese scheinbar banalen und collagenhaften Einblicke in das universitäre Leben der 1970er Jahre sind nicht druckreif – stattdessen sind sie gewissermaßen ‚philosophy in the making‘, ein unverfälschtes Dokument für wissenschaftshistorisch Interessierte. In den politischen Debatten verschwimmen Universität und Politik zu einem Zeitdokument, dessen Fragen bis heute offen bleiben.
Theresa Gessler war im Sommersemester 2012 Studentin der Soziologie. Der Text entstand im Rahmen einer Lehrveranstaltung der Studiengruppe „sammeln, ordnen, darstellen“.
Oskar Negt: Politik als Protest. Reden und Aufsätze zur antiautoritären Bewegung. Frankfurt am Main 1971.
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