von Annika Sellmann
Ein kleiner Blätterwald. Grün, mit heller Zeichnung entlang der großen Adern schmiegt sich ein zartes Blatt an das nächste. Gleich an gleich und höchstens fünfzehn Zentimeter hoch, bilden etwa 350 kaum unterscheidbare und zudem in regelmäßigen Abständen vollständig austauschbare Objekte eine Sammlung, in der mehr steckt, als man auf Anhieb erkennen kann. Aufgestellt in Sechsersteigen ist eine Ähnlichkeit mit Massenprodukten aus dem Gartenmarkt nicht zu verleugnen. Die Sammlung ist jedoch das Ergebnis kontinuierlicher täglicher Instandhaltungsmaßnahmen. Die Pflanzenaufzucht der Sanchezien im Wissenschaftsgarten ist eine ungewöhnliche Sammlung, bewahren bedeutet hier Stillstand vermeiden, Veränderung ermöglichen.
Seit dem 16. Jahrhundert dienten Botanische Gärten der Lehre und der Medizin. Der erste Botanische Garten in Frankfurt war Teil der Dr. Senckenbergischen Stiftung von 1763 am Eschenheimer Turm. 1907 wurde der Garten ins Westend verlagert, 1937 erfolgte ein weiterer Standortwechsel zugunsten der größeren Anlage in Bockenheim, wo er bis 2010 als Botanischer Garten der Goethe-Universität diente. Angebunden an den Campus Riedberg, trägt der neue Wissenschaftsgarten der Universität seinen Namen, um eine Verwechselung mit dem fortan städtischen Botanischen Garten in Bockenheim auszuschließen. Im Wissenschaftsgarten steht die universitäre Forschung und Lehre im Vordergrund, er wird nicht nur von den Biowissenschaften, sondern auch von der Pharmazie und den Geowissenschaften genutzt. Zwischen weitgereisten, seltenen, rätselhaften und intensiv beforschten Pflanzen sind es dort ausgerechnet die Aufzuchtpflänzchen, die das universitäre Curriculum und die Lebendsammlung des Wissenschaftsgartens besonders anschaulich verknüpfen. Sie dokumentieren den Anspruch einer Universität, nicht nur in der Theorie, sondern auch am Objekt zu unterrichten und zu forschen.
Welche Pflanzen zu welchem Zeitpunkt herangezogen werden, hängt vom Lehrangebot der Fächer ab. Ihre Menge spiegelt die Zahl der erwarteten Kursteilnehmer, da in der Regel für jeden Studierenden eine eigene Pflanze bereitgestellt wird. Werden für das Wintersemester Sanchezien benötigt, beginnt die „Produktion“ bereits im Mai. Die Pflanzenvermehrung der Sanchezien erfolgt vegetativ, also durch Ableger einer Mutterpflanze. Bei etwa 20° Celsius und hoher Luftfeuchtigkeit werden geschnittene Triebspitzen mit Stängel und einigen Blättern in die Erde „abgesteckt“ zur Bewurzelung gebracht. Diese sogenannten Kopfstecklinge müssen regelmäßig gegossen werden, Licht und Temperatur werden streng kontrolliert, Pflanzenschutzmaßnahmen, etwa das regelmäßige manuelle Befreien von Schädlingen, müssen getroffen werden.
Ungefähr sechs Monate Pflege stecken in jedem einzelnen Pflänzchen, denn die Sammlung hat eine bedeutende Funktion zu erfüllen. Im Seminar kann zum Beispiel anhand der Sanchezien sehr gut die Transpiration nachvollzogen werden. Ähnlich wie ein Lehrbuch, von dem jeder Student ein Exemplar erhält, dienen die Sanchezien gewissermaßen als serielles Medium der Wissensübermittlung. Ihr Inhalt ist jedoch nicht einfach lesbar, sondern muss unter Anleitung des Dozenten von den Studierenden nach den Regeln der Disziplin entziffert werden. In der Pflanzenaufzucht wird auf etwa sechzig verschiedene Arten zurückgegriffen. Ob Erbsen, Tulpen oder Gräser – herangezogen werden immer jene, mit deren Hilfe ein Thema besonders anschaulich erarbeitet werden kann.
Einmal benutzt sind die Pflanzen jedoch in der Regel nicht mehr zu gebrauchen. Wie eine ausgelesene Zeitung ist die Sanchezia nach dem Seminar zerpflückt, ihre Blätter liegen zerknittert am Boden. Es bleibt nur die Entsorgung. Wird die Mutterpflanze erhalten, können allerdings noch über Jahre hinweg Kopien erzeugt werden, deren DNA (deoxyribonucleic acid) identisch ist. Wo die Geschichte der einzelnen Pflanze linear vom Entstehen über die Nutzung zum Vergehen reicht, ist die der Lehrpflanzenzucht eine zyklische. Ihr Rhythmus ergibt sich allein aus dem periodischen Lehrplan der Universität, die Feinheiten der einzelnen Zyklen werden durch die Auswahl der Arten nach dem Lernziel bestimmt. Und während die Sanchezien auf dem Kompost landen, ist es schon wieder Zeit, an die neuen grünen Blättchen zu denken.
Die Autorin war 2014 Studentin der Kunstgeschichte. Der Text entstand im Rahmen der Jubiläumsausstellung „Ich sehe wunderbare Dinge. 100 Jahre Sammlungen der Goethe Universität“ und wurde im Katalog veröffentlicht. Dieses Objekt war in der Jubiläumsausstellung "Ich sehe wunderbare Dinge. 100 Jahre Sammlungen der Goethe-Universität" 2014/2015 zu sehen. Der erläuternde Text wurde für die Ausstellung bzw. den begleitend erschienenden Katalog verfasst.
Anke te Heesen: Verkehrsformen der Objekte, in: Dingwelten. Das Museum als Erkenntnisort, hg. v. Anke te Heesen, Köln, Weimar, Wien 2005, S. 53–64.
Stephan M. Hübner: Der prägende Einfluss des Buschwindröschens. Der Botanische Garten der Universität – eine (nicht nur) persönliche Betrachtung, in: UniReport. Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt, 40. Jg. 2007, S. 10f.
Stefan Dressler, Georg Zizka: Geschichtlicher Abriss der Botanik bei Senckenberg, 2005, http://www.senckenberg.de/files/content/forschung/abteilung/botanik/phanerogamen1/geschichtebotanikfr.pdf (Zugriff: 18.03.2014).
Dr. Senckenbergische Stiftung Die Institute – Botanik-Senckenberg Forschungsinstitut und Institut Ökologie, Evolution und Diversität, http://www.senckenbergische-stiftung.de/botanik---senckenberg-forschungsinstitut-und-institut-oekologie--evolution-und-diversitaet.html (Zugriff: 18.03.2014).
Wir freuen uns über Ihre Email an: sammlungen[at]uni-frankfurt.de
Dr. Judith Blume (heute: Koordinatorin der Sammlungen an der Goethe-Universität)
Dr. Vera Hierholzer (bis 2018; heute: Direktorin des Museums für Industriekultur in Osnabrück)
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Dr. Judith Blume
Koordinatorin der Sammlungen an der Goethe-Universität
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Die Plattform wurde von der Studiengruppe "sammeln, ordnen, darstellen" am Forschungszentrum für Historische Geisteswissenschaften entwickelt und im Rahmen der Jubiläumsfeierlichkeiten der Goethe-Universität im Jahr 2014 eröffnet. Ihr Aufbau war eng mit der Ausstellung „Ich sehe wunderbare Dinge. 100 Jahre Sammlungen der Goethe-Universität“ verknüpft, die von Oktober 2014 bis Februar 2015 im Museum Giersch der Goethe-Universität zu sehen war. Viele der Objekterzählungen waren auch in der Ausstellung zu lesen und sind im Katalog abgedruckt worden; viele Ausstellungstexte haben wiederum den Weg in die Plattform gefunden. Ebenso wurden die auf der Plattform gezeigten Filme sowie viele der Fotografien eigens für die Ausstellung produziert.
Dr. Judith Blume
Dr. Vera Hierholzer (bis 2018)
Dr. Lisa Regazzoni (bis 2020)
Dr. Charlotte Trümpler (Projektleitung und Kuratorin; Autorenkürzel: CT)
Dr. Judith Blume (Kuratorin, Autorenkürzel: JB)
Dr. Vera Hierholzer (Kuratorin, Autorenkürzel: VH)
Dr. Lisa Regazzoni (wissenschaftliche Mitarbeit, Autorenkürzel: LR)
Die Fotografien wurden von den einzelnen Sammlungen oder Autoren zur Verfügung gestellt sowie von Tom Stern (Sammlungsräume und Objekte), Uwe Dettmar (Objekte) und Jürgen Lechner (Objekte) angefertigt. Die Nachweise finden Sie bei den entsprechenden Abbildungen. Sollte trotz sorgfältiger Recherche ein Rechteinhaber oder Fotograf nicht genannt sein, bitten wir um einen entsprechenden Hinweis.
Sophie Edschmidt (Regie und Schnitt)
Philipp Kehm (Kamera)
Philipp Gebbe (Musik)
Dr. Charlotte Trümpler (Idee und Beratung)
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