von Heike Kiefer
Striche, Punktierungen, Schraffierungen und unregelmäßige Umrisse lassen unterschiedlichste Assoziationen aufkommen. Handelt es sich um eine impressionistische Landschaft oder um ein wildes Gewässer in abstrakter Manier?
Auf weißem Papier ist ein zum Teil grobes und teils sehr ausdifferenziertes organisches Gebilde erkennen. Urheber ist Ludwig Edinger, der 1872 bis 1877 Medizin in Heidelberg und Straßburg studierte. Bereits in den ersten Jahren seiner praktischen Tätigkeiten als Assistenzarzt verschrieb er sich der Neurologie. Ein wissenschaftliches Gebiet, welches seinerzeit noch in den Kinderschuhen steckte. Durch seine Forschungen galt und gilt er heute noch als Pionier der Neuroanatomie.
Die Profession des Urhebers lässt die anfänglichen Assoziationen eines Kunstwerks fraglich erscheinen. Ein Blick in die obere rechte Ecke des Blattes verrät, dass es sich um Etwas handelt, dass als Barbus bezeichnet wird. Die römischen Ziffern am Ende, der mit Lineal gezogenen Bleistiftlinien, verweisen auf einen externen Text, der sich im zweiten Band von Edingers Lehrbüchern für Studenten Vorlesungen über den Bau der nervösen Zentralorgane des Menschen und der Tiere befindet. Der Publikation zufolge handelt es sich um eine Zeichnung eines Sagittalschnittes, also eines Längsschnittes des Gehirns, von einer Barbe (Karpfen).
Mithilfe eines eigens entwickelten Projektionsgerätes, das Edinger Zeichenapparat nannte, fertigte er eine Vielzahl von Hirnzeichnungen an. Der Apparat ermöglichte Edinger den mikroskopischen Zugang zu den Nervensystemen von Tier und Mensch. Im gleichen Zuge sicherte er ihm die Produktion von wissenschaftlichen Belegen durch ein ausgeklügeltes projizierendes System bei dem er die stark vergrößerten Bilder durchpauste. In Anbetracht eines sich, insbesondere durch die Fotografie, ausdehnenden Kunstbegriffes zu Beginn des 20. Jahrhunderts, suchte die Wissenschaft nach Möglichkeiten die eigenen Visualisierungen (Diagrammen, Zeichnungen, Karten und Fotografien) von den Kunstproduktionen der Moderne abzugrenzen. Indem der subjektive Einfluss des Forschenden so gering wie möglich gehalten wurde, erhielt die Zeichnung akademische Autorität und entsprach dem Ideal der objektiven Wissenschaft.
Um die subjektive Komponente in der bildlichen Produktion wissenschaftlicher Objekte zu minimieren, fanden neben dem Zeichenapparat auch die Camera Lucida oder auch Techniken wie das Zeichnen innerhalb millimeterfeiner Netzgitter Anwendung. Mit ihnen wurde ein klarer und objektiver Blick auf den zu untersuchenden Gegenstand verbunden. Doch wie genau kommt dieser objektive Blick im Bild zur Anschauung? Die naheliegendste Vermutung wäre eine Darstellung, die so realistisch wie möglich gestaltet ist. Objektivität würde dann bedeuten den Faktor der Abweichung des zu untersuchenden Gegenstandes auf ein Minimum zu beschränken. In Edingers Zeichnung wird jedoch deutlich, dass nicht die Mimesis entscheidend war. Die Zeichnung ist ein Konglomerat aus kurzen und langen Strichen, Schraffierungen und Punktierungen, die herkömmlicherweise in der Kunst so eingesetzt werden, dass ein dreidimensionaler Eindruck entsteht. Edinger übersetzte diese Technik jedoch in ein codiertes System, das auf Kosten des mimetischen Eindrucks Wissen durch Anschauung generiert. So stehen beispielsweise kreisrunde rote Punkte für Nervenzellen (Neuronen) und blaue Striche für Nervenfaserzüge.
Die Zeichnung ist demnach kein direktes Abbild des Präparates, sondern stellt eine analytische Beobachtung des Forschenden dar, der beim Anfertigen Informationen filtert und durch Prozesse der Ergänzung, der Verstärkung oder auch der Auslassung mehr darstellt als mit dem bloßen Auge erkennbar ist. Die Strukturen werden somit abstrahiert und in eine vermeintlich objektive Zeichnung übersetzt. Durch den transformatorischen Vorgang, von dem gesehenen mikroskopischen Bild hin zu der Zeichnung, ließe sich sowohl eine auf Naturbeobachtung basierende wissenschaftliche Arbeitsweise hineininterpretieren als auch ein schöpferisch subjektiver Moment, wodurch die Zeichnung als Produkt der Kunst lesbar wäre.
______________________________________________________________________________________________________________________________ Heike Kiefer hat an der Goethe Universität Kunstgeschichte und Geschichte studiert. Dieser Text entstand 2018 im Rahmen des Projektseminars ,,Auge/Hand/Wissen. Handzeichnen als Technik der Welterfassung vom 18. bis 21. Jahrhundert" von Dr. Lisa Ragazzoni und Dr. Vera Hierholzer geleitet. Der Text wurde 2023 für die Plattform überarbeitet.
Werner, Gabriele: Bilddiskurse. Kritische Überlegungen zur Frage, ob es eine allgemeine Bildtheorie des naturwissenschaftlichen Bildes geben kann, in: Bredekamp, Werner (Hrsg.): Das technische Bild. Kompendium zu einer Stilgeschichte wissenschaftlicher Bilder, Berlin 2008, S. 31-35.
Bildbeschreibungen Eine Stilgeschichte technischer Bilder? Ein Interview mit Horst Bredekamp, in: Bredekamp, Werner (Hrsg.): Das technische Bild. Kompendium zu einer Stilgeschichte wissenschaftlicher Bilder, Berlin 2008, S. 36-47.
Brains on fire - Bilder in der Neurobiologie. Ein Gespräch der Bildwelten des Wissens mit Randolf Menzel und David Poeppel, in: Bredekamp, Werner (Hrsg.): Instrumente des Sehens, Berlin 2004, S. 87-98.
Menzel, Randolf: Schönheit in der Bildwissenschaft, in: Gegenworte, Heft.9, 2002, S. 31-36.
Baxandall, Michael: Ursachen der Bilder. Über das historische Erklären von Kunst, Berlin 1990.
Kreft, Gerald: Mein Lebensgang. Erinnerungen eines Frankfurter Arztes und Hirnforschers, Frankfurt a. M. 2005.
Edinger, Ludwig: Vorlesungen über den Bau der nervösen Zentralorgane des Menschen und der Tiere, Bd.2, Leipzig 1908.
Abbildungsnachweis:
Handzeichnungen Ludwig Edingers. Edinger Archiv, neurologisches Institut (Edinger), Universitätsklinikum Frankfurt.
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