von Patrick Schmidt
Stolze Väter sammeln Trophäen von ihren Söhnen. Üblicherweise sind dies Sportpokale, Medaillen oder Urkunden von Wettbewerben. Herr Vogel sammelt auch, jedoch nicht in diesen Kategorien. Seine „Trophäe“ ist ein Artikel aus der Frankfurter Abendpost vom 14. Januar 1964 mit der Überschrift „Genickschüsse an der ‚schwarzen Wand’ des Lagers Auschwitz. Adjutant Höcker lachte“, aus der Zeitung ausgeschnitten, auf Papier aufgeklebt und mit Datum versehen.
Eingeheftet in einen DIN A4-Ordner der Sammlung Vogel wird der Artikel heute in einem der vielen Aktenregale im Archiv des Fritz Bauer Instituts aufbewahrt. Herr Vogel war ganz offensichtlich stolz auf seinen Sohn, den Staatsanwalt Georg Friedrich Vogel (1926–2007). Dieser vertrat im ersten Auschwitzprozess, der 1963 bis 1965 in Frankfurt stattfand, die Seite der Ankläger. Von dem väterlichen Stolz auf den auf diese Weise bekannt gewordenen Sohn zeugen drei Ordner, gefüllt mit Zeitungsartikeln, die fein säuberlich ausgeschnitten und geordnet wurden. Nicht jeder Artikel nennt den Namen Vogel, einige haben nur sehr entfernt etwas mit dem eigentlichen Auschwitzprozess zu tun, der die Verbrechen der Konzentrationslager-SS an Lagerinsassen im Fokus hatte. Herr Vogel scheint also durchaus auch eine breitere Berichterstattung über die Verbrechen des Nationalsozialismus im Blick gehabt zu haben. Der Artikel vom 14. Januar 1964 ist jedoch ein Paradebeispiel für eine „Trophäe“, die der stolze Vater gesammelt hat. Mit dickem Kugelschreiber ist folgender Abschnitt markiert:
„Auf die Frage von Staatsanwalt Vogel, ob er nicht das fünfte Gebot ‚Du sollst nicht töten’ kenne und sich damals in Auschwitz darüber Gedanken gemacht habe, als man bei den Bunkerentleerungen praktisch im Vorbeigehen über Leben und Tod der Häftlinge entschied, antwortet Dylewski:“
Hier endet die Markierung, der nachfolgende fettgedruckte Satz „Ich fand das grausam“, der eigentlich die Essenz des Abschnitts ist, wird außer Acht gelassen. Vogel ging es also weniger um die Aussage des Angeklagten Klaus Dylewski als um die Nennung des Staatsanwalts Vogel.
Als Überlassung Vogels an das Fritz Bauer Institut bilden die Zeitungsausschnitte – mit Pressespiegeln vergleichbar – eine multiperspektivische Sicht auf den ersten Auschwitzprozess ab. Es finden sich Artikel aus der Bild-Zeitung neben Artikeln aus Lokalblättern oder der Deutschen Nationalzeitung, sodass eine breiter Ausschnitt aus der Rezeption des Prozesses in der Presse und der deutschen Öffentlichkeit gezeigt wird. Der Artikel bzw. die ganze Artikel-Sammlung ist also auch eine Quelle, anhand derer das Prozessgeschehen nachvollzogen werden kann. Gleichzeitig kann diese private Sammlung heute als Ausgangspunkt zur Rekonstruktion des öffentlichen Meinungsbilds dienen. Vielleicht sind die Artikel der Sammlung Vogel sogar die einzigen Dokumente im gesamten Archiv, die diese Möglichkeit bieten. Die weiteren dort aufbewahrten Akten beschränken sich auf das Geschehen im Prozess, Zeitungsartikel hingegen geben zudem Aufschluss über den Kontext des Prozesses, sie erlauben einen Einblick in seine Rezeption und die große öffentliche Aufmerksamkeit, die ihm entgegen gebracht wurde.
Anders als offizielle Zeitungsarchive aber erzählt diese Zeitungsausschnittssammlung auch die Geschichte einer individuellen, persönlichen Wahrnehmung des Zeitgeschehens. Mit dem Ausschneiden der Artikel löst Vogel die Nachrichten nicht nur aus ihrem ursprünglichen Kontext und setzt sie in einen neuen Zusammenhang, er dokumentiert auch seine eigene Aufmerksamkeit und Lesehaltung. Die Markierungen untersteichen im Wortsinne diesen Aspekt. So wird aus der Dokumentation der Berichterstattung über grausame Verbrechen und deren rechtliche Verfolgung eine Sammlung von persönlichen Erinnerungsstücken, die auch von der Erfolgsgeschichte der Familie zeugen.
Zusammen mit den drei Ordnern voller vergilbter Zeitungsausschnitte spielt der Artikel also in vielerlei Hinsicht eine besondere Rolle in der Sammlung des Fritz Bauer Instituts. Der formalen Justizsprache setzt er die Stimmung der Zeitgenossen entgegen.
Der Autor war im Sommersemester 2013 Student der Geschichte und der Informatik. Der Text entstand im Rahmen der Lehrveranstaltung der Studiengruppe „sammeln, ordnen, darstellen“.
Christian Dirks: Selekteure als Lebensretter. Die Verteidigungsstrategie des Rechtsanwalts Dr. Hans Laternser, in: „Gerichtstag halten über uns selbst...“. Geschichte und Wirkung des ersten Auschwitz-Prozesses, hg. v. Irmtrud Wojak, Frankfurt a. M. 2001, S.163–192.
Anke te Heesen: Der Zeitungsausschnitt. Ein Papierobjekt der Moderne. Frankfurt 2006.
Marc von Miquel: „Wir müssen mit den Mördern zusammenleben!“ NS-Prozesse und politische Öffentlichkeit in den sechziger Jahren, in: „Gerichtstag halten über uns selbst...“. Geschichte und Wirkung des ersten Auschwitz-Prozesses, hg. v. Irmtrud Wojak, Frankfurt a. M. 2001, S.97–116.
Irmtrud Wojak: Auschwitz-Prozeß 4 Ks 2/63, Katalog zur Ausstellung vom 27. März bis 23. Mai 2004 im Haus Gallus, Frankfurt a. M., Köln 2004.
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