von Elena Frickmann
Der wohl gefürchtetste Abschnitt des Konzentrationslagers Auschwitz (Stammlager) war der Block Nr. 11, der Strafblock. Ab Januar 1943 kam hier in regelmäßigen Abständen ein Tribunal des Standgerichts zusammen. Im Schnellverfahren wurden unzählige Urteile gefällt, fast immer mit dem Todesspruch. Fiel das Todesurteil, so wurde dieses in den meisten Fällen vor der sogenannten „Schwarzen Wand“ vollzogen. Die verurteilten KZ-Häftlinge wurden nackt vor der Wand aufgestellt, ihr Körper zuvor mit einer großen Zahl markiert, um später die Identifizierung der Leichen im Krematorium oder in der Leichenhalle und ihren Eintrag in den Totenregistern zu erleichtern. Zwischen 1941 und 1943 wurden so an diesem Ort circa 20.000 Menschen durch einen Genickschuss hingerichtet. Zeugen berichten, dass trotz der grausamen Hinrichtung der Tod oft als eine Befreiung von der körperlichen und mentalen Folter durch die SS empfunden wurde.
Am 14. Dezember 1964 positionierte sich eine Gruppe von 24 Personen vor dieser Wand, jedoch aus einem anderen Grund und ohne Zwang. Es handelte sich um die Beteiligten des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses (1963 bis 1965), die sich zu einer Schweigeminute an diesem Ort versammelt hatten. Unter ihnen ein Richter, drei Staatsanwälte, drei Nebenklagevertreter, elf Verteidiger, zwei Justizbeamte, ein Kriminalbeamter und eine Dolmetscherin. Nur einer der Angeklagten war bereit, die Reise nach Polen mit anzutreten, der ehemalige Lagerarzt Dr. med. Franz Lucas, der 1970 nach der Neuverhandlung seines Falles vom Landgericht Frankfurt am Main freigesprochen wurde.
Der Grund für den von der Presse begleiteten Besuch dieser Gruppe war eine vom Frankfurter Schwurgericht angeordnete Ortsbesichtigung, bei der sich alle Prozessbeteiligten ein umfassendes Bild von den Umständen im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau machen sollten. Schon zu Beginn des seit Dezember 1963 laufenden Prozesses kam es immer wieder zu Unstimmigkeiten und ungeklärten Fragen. Wie beispielsweise, ob der Zeuge X den Angeklagten Y überhaupt von seinem Standort aus gesehen haben konnte. Eine Ortsbesichtigung erschien daher dringend notwendig.
Unter den Beteiligten war auch der Staatsanwalt Hanns Großmann, der diese Reise in einem gewöhnlichen Fotoalbum festhielt, in das er Zeitungsartikel, private Fotos und kleine Souvenirs, wie beispielsweise eine gefundene hebräische Buchseite oder eine Menükarte aus einem Restaurant in Warschau, einklebte. Sorgfältig hat Großmann die Reise für sich selbst dokumentiert, vielleicht um sich später einmal an diesen besonderen Punkt seiner Karriere als Staatsanwalt zu erinnern. Unter den vielen Andenken in diesem Album befand sich auch der hier vorliegende Flugschein der Lufthansa mit der Nummer 7659331 für die Strecke Frankfurt–Wien–Warschau–Wien–Frankfurt, ausgestellt auf Hanns Großmann am 7. Dezember 1964. Das unscheinbare blau-gelbe Ticket ist keineswegs ein simples Urlaubsandenken, sondern steht für eine bemerkenswerte Reise zur Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau, die für die Auschwitz-Prozesse von großer Bedeutung war. Eine Reise nicht nur an einen Ort, sondern auch in eine schwer zu bewältigende Vergangenheit, von der auch zahlreiche Dokumente im Fritz Bauer Institut in Frankfurt am Main zeugen.
Nach Großmanns Tod im Jahr 1999 gelangte das gesamte Album dank seiner Witwe in die Sammlung des Instituts. Hier ermöglicht es neben den vielen offiziellen Dokumenten zu den Frankfurter Auschwitz-Prozessen einen ungewöhnlichen Blickwinkel, nämlich den Einblick in die privaten Eindrücke eines Prozessbeteiligten.
Elena Frickmann war im Sommersemester 2013 Studentin der Curatorial Studies. Der Text entstand im Rahmen der Lehrveranstaltung der Studiengruppe „sammeln, ordnen, darstellen“.
Wolfgang Benz, Barbara Distel (Hg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 5: Hinzert, Auschwitz, Neuengamme, München 2007, S. 147–162.
Pery Broad, Rudolf Höss und Johann Paul Kremer: Auschwitz in den Augen der SS. Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau 1997, S. 99–112.
Gerhard Mauz, „Wo ist denn unser Angeklagter?“ Ortsbesichtigung in Auschwitz: X konnte Y sehen, in: Der Spiegel 52, 1964, S. 88–90.
Sibylle Steinbacher: Auschwitz. Geschichte und Nachgeschichte, München 2004, S. 77–92.
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