von Annika Sellmann
„Acanthus sennii Chiov. var. lanatus Cuf. Var. n.“ – diese Worte finden sich mit Schreibmaschine auf ein rechteckiges Etikett getippt. Diese fast rhythmische Reihung von Zeichen auf einem Herbarbogen im Herbarium Senckenbergianum birgt Geschichten von Forschern, ihren Expeditionen und Entdeckungen und stellt zugleich ein Zeugnis ihrer Denk- und Arbeitssysteme dar. Das ausführliche Etikett ist vonnöten, um die konservierte Pflanze für die Wissenschaft nutzbar zu machen. Es lohnt sich, dieses näher zu betrachten, um zu verstehen, wie die komplexen Informationen darauf komprimiert und strukturiert sind.
Die weitere Beschriftung verrät, dass die hier bestimmte Pflanze auf der „Expedition des Frobenius-Instituts der Universität Frankfurt a. M. nach Süd-Aethiopien, 1954/56“ gesammelt wurde. Das Frobenius-Institut, Deutschlands ältestes Institut für ethnologische, historische und prähistorische Studien, legt seinen Schwerpunkt auf Afrika-Forschung. Der angegebene Sammler, Wolfgang Kuls (1920–2002), Botaniker und Geograph und selbst nicht Mitglied des Institutes, begleitete 1954 die Expedition nach Südäthiopien. Vor Ort widmete er sich für seine humangeographischen Studien besonders den Kultur- und den genutzten Wildpflanzen, das gesammelte Material wertete er jedoch nicht selbst aus. Erst zehn Jahre später begann Professor Georg Cufodontis (1896–1974) in Wien mit der systematischen Benennung der Fundstücke. Im Beleg mit der Sammelnummer 20 aus Addis Alem, damals Teil des ägyptischen Königreichs Schoa, erkannte der Biologe eine Akanthuspflanze.
Zugehörig zu der Gattung Acanthus, benannte Cufodontis das distelartige Kraut zunächst mit dem spezifischen Zusatz „sennii Chiov.“. Diese Spezies verdankt ihren Namen ihrem Entdecker Emilio Chiovenda (1871–1941), einem italienischen Botaniker. Auch der erste Anhang „sennii“ stellt einen persönlichen Bezug dar – vermutlich bekundete auch Chiovenda mit seiner Namenswahl Respekt vor einem anderen Pflanzensammler, in diesem Fall Gustav Alfred Senn (1875–1945) – eine durchaus übliche Geste der Wertschätzung unter Naturwissenschaftlern.
Da es sich bei der von Kuls gesammelten Akanthuspflanze nicht um genau jene Art handelt, die Chiovenda bereits 1940 bestimmt hatte, oblag es Cufodontis, die Variation zu benennen. Der Namensbestandteil „var. lanatus Cuf. Var. n.“ beschreibt, dass es sich um eine neugefundene Varietät (Var. n.) einer von Cufodontis (Cuf.) entdeckten, mit feinem Pelz bedeckten (lanatus) Akanthussippe handelt. Die Deklarierung der Pflanze als Neuentdeckung findet sich auch im orange unterlegten Schriftzug „TYPUS“ auf dem Etikett wieder. Der Herbarbogen dient als Vergleichsstück beim Bestimmen weiterer Akanthuspflanzen. In der biologischen Nomenklatur, ihrem Ordnungs- und Benennungssystem, fungiert ein solcher physischer Typenbeleg gewissermaßen als „Urmeter“, als gemeinhin akzeptierter Prototyp einer Pflanzenart.
Da grundsätzlich in der Namensgebung so viel Aussagekraft über die festgestellten Verwandtschaftsverhältnisse zu anderen Pflanzen steckt, gibt es formale Bestimmungen, die zu beachten sind und an die sich auch Cufodontis hielt. Auf dem II. Internationalen Botanischen Kongress in Wien wurden 1905 verbindliche Regeln im Internationalen Code der Botanischen Nomenklatur festgelegt, die in ihren Grundzügen bis heute Bestand haben. Urvater der Idee, Pflanzen mithilfe ihrer taxonomischen, also hierarchisch eingegliederten Bestimmung in ein Namenssystem zu bringen, war Carl von Linnée (1707–1778). Sein Buch „Species Plantarum“ aus dem Jahr 1753 beeinflusste maßgeblich die Vorgehensweise, mit der Pflanzennamen in binärer Form aus Gattung (Genus) und Beiwort für die Art (Epitheton) zusammengesetzt werden, und damit auch in großem Maße den Internationalen Code. Zuvor war es üblich, die Diagnose – eine kurze Beschreibung der Pflanze – in ihrem zumeist sehr langen Namen auszudrücken. Mit zunehmender Anzahl von Arten wurde dies jedoch sehr unübersichtlich und man einigte sich auf Linnées taxonomisch geordnete Binomina.
Nur wer den vollen wissenschaftlichen Namen der Pflanze kennt, wird auf der Suche nach einem Belegbogen im Herbarium fündig. Die Ordnung des Pflanzenarchivs richtet sich streng nach der taxonomischen Bestimmung seiner Objekte. Zwischen den Regalen, die sich ihrerseits in Fächer und Ablagen untergliedern, steht man gewissermaßen im System der Pflanzen. In den 37 Zeichen der Namensgebung unseres Beispiels verbirgt sich so letztendlich auch die Einordnung der herbarisierten Pflanze in ein räumliches und theoretisches System einer wissenschaftlichen Disziplin.
Die Autorin war im Sommersemester 2013 Studentin der Kunstgeschichte. Der Text entstand im Rahmen der Lehrveranstaltung der Studiengruppe „sammeln, ordnen, darstellen“ und wurde im Katalog der Jubiläumsausstellung „Ich sehe wunderbare Dinge. 100 Jahre Sammlungen der Goethe Universität“ veröffentlicht. Dieses Objekt war in der Jubiläumsausstellung "Ich sehe wunderbare Dinge. 100 Jahre Sammlungen der Goethe-Universität" 2014/2015 zu sehen. Der erläuternde Text wurde für die Ausstellung bzw. den begleitend erschienenden Katalog verfasst.
INDEX COLLECTORUM HERBARII SENCKENBERGIANI (FR), http://www.senckenberg.de/files/content/forschung/abteilung/botanik/phanerogamen1/sammler.pdf (Zugriff: 18.03.2014).
Helmut Genaust: Etymologisches Wörterbuch der botanischen Pflanzennamen, Berlin 1998.
Kaj Vollesen: Synopsis of the species of Acanthus (Acanthaceae) in tropical East and Northeast Africa and tropical Arabia, in: Kew Bulletin, 62. Jg. 2007, S. 233–255.
Wolfgang Grazow: Abkürzungen und Symbole in der biologischen Nomenklatur, Frankfurt a. M. 2000.
Karl F. Schaller: Äthiopien-Ethiopia. Eine geografisch-medizinische Landeskunde, Heidelberg, New York 1972, Kartenanhang.
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Die Plattform wurde von der Studiengruppe "sammeln, ordnen, darstellen" am Forschungszentrum für Historische Geisteswissenschaften entwickelt und im Rahmen der Jubiläumsfeierlichkeiten der Goethe-Universität im Jahr 2014 eröffnet. Ihr Aufbau war eng mit der Ausstellung „Ich sehe wunderbare Dinge. 100 Jahre Sammlungen der Goethe-Universität“ verknüpft, die von Oktober 2014 bis Februar 2015 im Museum Giersch der Goethe-Universität zu sehen war. Viele der Objekterzählungen waren auch in der Ausstellung zu lesen und sind im Katalog abgedruckt worden; viele Ausstellungstexte haben wiederum den Weg in die Plattform gefunden. Ebenso wurden die auf der Plattform gezeigten Filme sowie viele der Fotografien eigens für die Ausstellung produziert.
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