von Anika Auer
Die an der Ecke Paul-Ehrlich-Straße/Kennedyallee gelegene Jugendstilvilla beherbergt seit den 1930er Jahren die Abteilung für Rechtsmedizin der Goethe-Universität. August Heinrich Euler (1868–1957), einer der Luftfahrtpioniere Deutschlands, auf dessen Initiative hin im Juni 1912 der erste amtliche Postflug zwischen Frankfurt am Main und Darmstadt durchgeführt wurde, verkaufte seine Villa, in der er mit seinen sechs Kindern gewohnt hatte, im Jahr 1937 an die Universität. Mit dem durchaus günstigen Verkaufspreis von 35.000 Reichsmark verband Euler die Auflage, dass die Villa ausschließlich für wissenschaftliche Zwecke und nicht als Wohn- oder Verwaltungsgebäude genutzt werden sollte. Dass diese Weisung bis heute erfüllt wird, verdeutlicht vor allem der kleine Vorlesungssaal mit fest installierten Klappstühlen und klappbaren Schreibplatten im Erdgeschoss der „Euler-Villa“: Hier hängen an den Wänden Bilder und andere Darstellungen, die unterschiedliche anatomische Studien präsentieren, sowie Glaskästen mit verschiedenen Anschauungsobjekten. Besonderes Interesse weckt jedoch der weiße Vitrinenschrank im hinteren Teil des Raumes, an dem ein kleines Schild mit der Aufschrift „Schrank elektrisch gesichert. Nicht gebrauchsfertige Waffen. Alarmanlage“ angebracht ist. Hinter dem Schild und den Glasfenstern finden sich aber nicht nur Waffen, sondern es offenbart sich ein buntes Sammelsurium unterschiedlichster Objekte, die in Lehrveranstaltungen und zur Unterweisung von Medizin- und Jurastudenten eingesetzt werden.
In dem Einbauschrank wird auch ein menschlicher Schädel aufbewahrt, der auf eine Platte gespannt ist und von einem kleinen Stab gehalten wird. Der Schädel, der mehrere, hintereinander folgende Bruchlinien aufweist, stammt von einem namentlich nicht mehr bekannten Mann, der im Jahr 1969 tot aufgefunden wurde. Um die genaue Todesursache festzustellen, wurde während der rechtsmedizinischen Untersuchung an der Schädeldecke des Mannes eine nach ihrem Entdecker Georg Puppe (1867–1925) benannte Regel angewandt. Durch die 1908 aufgestellte Puppe-Regel kann, sofern mehrere Frakturen vorliegen, die zeitliche Reihenfolge von Gewalteinwirkungen nachgewiesen werden. Haben nämlich „mehrere nacheinander folgende Gewalteinwirkungen zu Schädelbrüchen geführt, enden die Bruchlinien einer späteren Gewalteinwirkung an denen einer vorausgehenden“, sodass aus „diesem Abbruch der Bruchlinien an der vorausgegangenen Einwirkungsstelle […] auf die Reihenfolge der Gewalteinwirkung geschlossen werden“ kann (Dettmeyer, Madea: S. 128).
Heute dienen Schädel und Modell hauptsächlich zu Demonstrationszwecken in der Lehre: Es wird gezeigt, wie durch die Puppe-Regel festgestellt werden kann, wie oft die Frakturen an der Schädeldecke vorkommen und in welcher Reihenfolge sie entstanden sind. Diese Erörterungen sind aber nicht nur für medizinische Betrachtungsweisen relevant, sondern auch für polizeiliche Ermittlungen oder die Erstellung gerichtlicher Gutachten – beispielsweise wenn in einem Prozess zwischen den Tötungsdelikten Mord und Totschlag (§ 211 und § 212 Strafgesetzbuch) unterschieden werden muss. Für Mörder – bei deren Verurteilung sogenannte „Mordmerkmale“ wie Mordlust, Befriedigung des Geschlechtstriebs, Habgier oder Heimtücke nachgewiesen werden müssen – sieht das Strafgesetzbuch eine lebenslange Freiheitsstrafe vor. Der Tatbestand des Totschlags, bei dem ein Mensch einen anderen Menschen tötet, ohne Mörder zu sein, wird hingegen mit mindestens fünf Jahren Freiheitsentzug geahndet – sofern kein besonders schwerer Fall vorliegt.
Mit Hilfe der Puppe-Regel konnten die Rechtsmediziner Ende der 1960er Jahre also eindeutig beweisen, dass der Verstorbene nicht durch einen Unfall ums Leben gekommen war, sondern – darauf weisen die vielen feinen Frakturlinien und ihre Anordnung an der Schädeldecke hin – durch äußere Gewalteinwirkung, sodass aufgrund dieser Feststellung die Kriminalpolizei weitere Ermittlungen aufnehmen konnte.
Anika Auer ist M. A. in Geschichte. Der Text wurde 2014 für den Katalog der Ausstellung „Ich sehe wunderbare Dinge. 100 Jahre Sammlungen der Goethe Universität“ verfasst.
Hansjürgen Bratzke: Kurzer Abriss der Geschichte der Rechtsmedizin in Frankfurt am Main, in: 100 Jahre Deutsche Gesellschaft für Geschichtliche Medizin/Rechtsmedizin. Vom Gründungsbeschluss 1904 zur Rechtsmedizin des 21. Jahrhunderts, hg. v. Burkhard Madea, o. O. 2004, S. 239–243.
Reinhard Dettmeyer, Burkhard Madea (Hg.): Basiswissen Rechtsmedizin, Heidelberg 2007.
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Die Plattform wurde von der Studiengruppe "sammeln, ordnen, darstellen" am Forschungszentrum für Historische Geisteswissenschaften entwickelt und im Rahmen der Jubiläumsfeierlichkeiten der Goethe-Universität im Jahr 2014 eröffnet. Ihr Aufbau war eng mit der Ausstellung „Ich sehe wunderbare Dinge. 100 Jahre Sammlungen der Goethe-Universität“ verknüpft, die von Oktober 2014 bis Februar 2015 im Museum Giersch der Goethe-Universität zu sehen war. Viele der Objekterzählungen waren auch in der Ausstellung zu lesen und sind im Katalog abgedruckt worden; viele Ausstellungstexte haben wiederum den Weg in die Plattform gefunden. Ebenso wurden die auf der Plattform gezeigten Filme sowie viele der Fotografien eigens für die Ausstellung produziert.
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