von Yannic Jäckel
Der gelblich eingefärbte Gipsabguss eines griechisch-archaischen Kuros ist nach dem Original einer marmornen Grabstatue gefertigt, die im Dorf Anavyssos gefunden und im Nationalmuseum in Athen aufbewahrt wird. Die wahrscheinlich zugehörige Inschrift bezeichnet den Verstorbenen als einen Kriegsgefallenen namens „Kroisos“. Die Grabstatue zeigt einen jungen Mann in frontaler, starr aufrechter Haltung, deren strenge Symmetrie nur durch das vorgesetzte linke Bein durchbrochen ist. In diesem Schrittmotiv ist Bewegungspotenz enthalten, ebenso wie in den zu Fäusten geschlossen Händen an den im Übrigen tatenlos zu beiden Seiten des Körpers herabhängenden Armen. Auch die Gestaltung von kräftig vortretenden Muskelwölbungen an Schultern, Armen, Brust und Beinen dient dem Ziel, Lebendigkeit und männliche Kraft beim Anblick der Statue erleben zu lassen. Jeder antike Betrachter assoziierte damit athletisches Training, mit dem langen Haar dagegen eine ganz andere Qualität, die aber ebenso die Eliten auszeichnete: eine gepflegte, anmutige Erscheinung bei öffentlichen Festen. In der Formgebung der Skulptur halten sich das Bestreben nach abstrakter Schönheit und nach Realismus die Waage. Details wie Bauchmuskeln und Gelenke sind als regelmäßige, ornamental wirkende Formgebilde stilisiert. Der gewusste Bestand an Muskeln und Knochen ist in eine klare kompositorische Ordnung aus vollständigen Einzelformen gebracht – es sollte noch lange dauern, bis für die komplexen Überlagerungen und Verflechtungen im Organismus spezifischere Formen gefunden waren. Die deutlich herausgearbeitete Bauchmuskelgruppe ist ein gutes Beispiel: Einerseits sind korrekterweise drei Paar Bauchmuskelsegmente oberhalb des Nabels aufgezählt, andererseits sind diese als ungestörte Formen in die Fläche hineinkomponiert, die der schönlinige Rippenbogen freilässt. In Wirklichkeit reicht das oberste Muskelsegmentpaar über den Brustkorbrand hinauf und ist in Höhe des Brustbeins darauf angewachsen. Das Bauchmuskelschema behält bis zum Ende der Archaik seine Überzeugungskraft, wie auch das Kurosschema generell. Obwohl Kuroi als Grabmäler anhand ihrer Inschriften die Erinnerung an ganz bestimmte Individuen wach halten, unterscheiden sie sich nicht in ihrer Körperhaltung. Lediglich in Proportionen, Massenverteilung und Einzelformen sind kleine Unterschiede feststellbar. Da im Kurostypus die idealen Eigenschaften eines jungen Aristokraten sinnfällig werden – männliche Stärke und Aktionsbereitschaft, Athletentum und Kultiviertheit – ist es unwahrscheinlich, dass es sich um ein realistisches Abbild des Dargestellten handeln kann. Der Wert des Dargestellten wurde gewiss durch den künstlerischen Aufwand überhöht, der sich – außer in den angesprochenen formalen Qualitäten – auch in harmonischen und bedeutungsvollen Proportions- und Maßverhältnissen der ganzen Figur und ihrer Teile widerspiegelte.
Die Entstehung des griechischen Kurostypus ist nicht denkbar ohne das Vorbild der altägyptischen Skulptur. Der Kuros hat aber seinerseits wieder auf die mediterranen Kulturen und darüber hinaus gewirkt. Unser Gipsabguss wurde für die Ausstellung „Die Picener. Ein Volk Europas“ in der Schirn Kunsthalle Frankfurt erworben, um dort neben exzeptionellen altitalischen und frühkeltischen Steinfiguren zu stehen wie dem „Krieger von Capestrano“, dem „Mann von Hirschlanden“ oder dem „Fürsten vom Glauberg.“ Wie in dieser Ausstellung, so kann der Gipsabguss des Kuros auch in jedem anderen erkenntnisträchtigen Vergleichskontext das Original als räumlich-körperhafte Form vollgültig vertreten.
Yannic Jäckel war im Sommersemester 2012 Student der Geschichte und Kunstgeschichte. Der Text entstand im Rahmen der Lehrveranstaltung der Studiengruppe „sammeln, ordnen, darstellen“ und ist von Dr. Ursula Mandel überarbeitet worden.
Brian Sparkes: Greek Art, in: Greece & Rome. New Surveys in the classics.
Photini N. Zaphiropoulou: Masterpieces of ancient greek Skulpture, Athen 2005.
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